DUCKLING“ – eine kleine Trommelgeschichte

MeinName ist „Duckling“, und ich bin eine Bodhrán.
Bild: Trio mit Duckling
Entstanden bin ich in der Nähe von Galway an der irischen Westküste im Jahr 1968.
Ihr wisst nicht, was eine Bodhrán ist? Nun, eine Bodhrán ist eine Trommel aus Ziegenfell und einem Holzrahmen, und sie wird normalerweise als Begleitinstrument in der irischen Musik verwendet. Ich sage: normalerweise, denn meine eigene Geschichte ist eine völlig andere. Wenn ihr sie hören wollt, erzähle ich sie euch. Dann könnt ihr auch erfahren, wie ich zu meinem Namen gekommen bin. Die Ziege, die ihr Leben für mich und andere Bodhráns hingegeben hat, hatte keinen Namen, und ihr Fell war an irgendeinen Kesselflicker aus Westport verhökert worden.
Eine Geschichte beginnt meistens irgendwo und irgendwann, meist zu einem Zeitpunkt, der irgendeine Änderung mit sich bringt oder ein einschneidendes Ereignis, welches den Lauf der Dinge nachhaltig verändert.
Falls ihr begonnen habt, meine Geschichte  zu lesen, fragt ihr euch wahrscheinlich schon seit ungefähr einer Minute, warum und wie eine Bodhrán überhaupt solche Gedanken entwickeln kann. Nun, das ist ganz einfach zu erklären: Ich hatte in meinem bisherigen Leben unglaublich viel Zeit, vor allem im ersten Teil meines kuriosen Daseins.
Und so will ich dann auch da beginnen, wo sich alles für mich änderte, also kurz bevor ich einen jungen Musiker names Willie kennen lernte.
Das war irgendwann im Frühling vor ungefähr 30 Jahren, als ich zwischen zerbrochenen Staffeleien, ausgedrückten Farbentuben, hart gewordenen Pinseln, einem saitenlosen Tenorbanjo, abgerissenen Papierbögen und missglückten Gemälden allmählich in der Ecke eines Ateliers zu verstauben drohte, das einem Bremer Künstler gehört, der Maler und gleichzeitig Musiker ist.
Er hatte mich bei einem seiner vielen Flohmarktbesuche für einen Apfel und ein Ei erstanden, konnte jedoch nichts mit mir anfangen und hatte mich daraufhin wieder achtlos zur Seite gelegt. Und so hatte ich mich viele Jahre lang zwischen all den Gegenständen, die sich im Laufe der Zeit um mich herum angesammelt hatten, entsetzlich gelangweilt: Dinge, die der Künstler von Zeit zu Zeit gebrauchte oder irgendwann einmal brauchen würde.
Ich bin mir durchaus darüber im klaren, dass ich in meiner Form als Trommel überhaupt nicht schön bin, und dass mein Klang auch sehr zu wünschen übrig lässt. Schließlich bin ich von jenem irischen Kesselflicker zusammen gebaut worden, der das Ziegenfell erworben und die beiden über kreuz liegenden runden Stöcke, die meinen Rahmen halten müssen, unterschiedlich lang gefertigt hatte. Dies hatte dazu geführt, dass ich mich sofort verzogen hatte, nachdem das nass an meinem Rahmen aufgebrachte Ziegenfell getrocknet war. Danach sah ich aus wie der abnehmende Vollmond. Als der Kesselflicker seine Schandtat betrachtete, fluchte er, aber nicht auf sich selbst, sondern auf das Resultat seiner dilettantischen Arbeit.

Ich werde dich „The Ugly Duckling“ nennen – das hässliche Entlein, sagte er zu mir und legte mich zu dem übrigen Geröll in seinen Pferdewagen.  Und so lag ich, eine Art Missgeburt, zwischen Stapeln von Gebrauchtwaren, Werkzeug, Krimskrams und alten Socken und wartete auf mein Schicksal.

Ich war dennoch froh, endlich einen eigenen Namen zu haben und nannte mich fortan selber „Duckling“, denn das Wort „ugly“ ignorierte ich wie Essig.
Die Tage, Wochen, Monate, Jahre vergingen wie langsam tropfendes Wasser.
Nur einmal in meinem Leben war ich bis zum damaligen Zeitpunkt von anderen Händen berührt worden. Es war an dem Tag gewesen, als irgendein deutscher Tourist ein Souvenir brauchte und mit seiner Frau zufällig am Pferdewagen des Kesselflickers vorbei kam. Der Kesselflicker, der tagaus, tagein darauf lauerte, irgend einen Tand und anderes nutzloses Zeug an ahnungslose Touristen zu verscherbeln, nahm mich von der Auslage, die er um den Pferdewagen herum aufgebaut hatte und reichte mich dem Touristen, der einige Male kurz mit seinem Fingerknochen auf mir herumklopfte, die Stirn runzelte, die Lippen zusammen presste und mich dem Kesselflicker kopfschüttelnd zurück gab.
Ich hatte schon gehofft, endlich in spielende Hände zu geraten, doch nun sah ich mich enttäuscht und begann schon, mich mit meinem weiteren jahrelangen Schicksal des Wartens abzufinden. Doch da geschah plötzlich etwas Unvorhersehbares. Die Frau des Touristen trat nochmals an den Kesselflicker heran und verwickelte ihn in ein kurzes Gespräch. Schließlich willigte dieser in den vereinbarten Handel ein und übergab mich der Frau. Diese gab dem Kesselflicker einige Geldscheine, packte mich auf den Rücksitz des Leihwagens und brauste mit ihrem Mann in Richtung Flughafen.
Man kann sich vorstellen, dass der Flug nach Deutschland für mich nicht besonders angenehm war. Zwischen Koffern, Rucksäcken und Angelutensilien eingezwängt, musste ich einige Stunden in eisiger Kälte ausharren, bevor mich die Frau bei der Gepäckabfertigung wieder abholte. Ich fror erbärmlich und mein Fell war schlaff wie ein alter Ziegeneuter. Ich war abgrundtief enttäuscht und wäre vermutlich im Müll gelandet, wenn irgendwer in jenem Moment auf mir herumgetrommelt hätte.
Wiederum wurde ich auf den Rücksitz eines Wagens geworfen, und erst nach einigen Stunden Autobahn öffnete sich endlich die rückwärtige Tür.  Der Sohn des Touristenpärchens starrte mich entgeistert an und fragte seine Mutter, was das denn sei.
Das ist eine Bodhrán, eine irische Rahmentrommel, antwortete die Mutter, du wolltest doch was echt Irisches mitgebracht haben, oder?
Aber doch nicht so ein hässliches Ding, sagte der Junge, nahm mich, klopfte gelangweilt mit der Hand auf mir herum, und, da ihn der Klang offenbar nicht besonders interessierte, trug er mich hinauf in sein Zimmer. Dort stellte er mich neben den Kleiderschrank in eine Nische, wo ich sehr, sehr viele Tage verbringen musste, in der ich jede Menge Zeit hatte, über die Dinge des Lebens nachzudenken.
Jahre vergingen. Ich sah den Jungen größer werden, und als er Platz in seinem Zimmer brauchte, warf er einige Dinge in einen großen Umzugskarton, darunter auch mich. Der Karton wurde zu einem der wöchentlichen Flohmärkte getragen, und die Gegenstände auf einem Klapptisch ausgebreitet. Irgendwann kam dann der Bremer Künstler vorbei, gab dem Jungen ein paar Münzen und warf mich in seinen hellblauen VW-Bus.
Und so war ich schließlich in das Atelier gelangt, wo ich weitere nutzlose Jahre verbringen sollte.
Tag für Tag beobachtete ich, wie der Künstler ein Bild nach dem anderen malte. Immer wieder waren es Motive, bei denen irgendwas aus einer Wand heraus bricht, Mauern sich öffnen, lebendige Figuren aus verhärteten Strukturen heraus kriechen oder Wolken hinter einem Loch in der Hauswand zu sehen sind. Diese Bilder verursachten eine große Sehnsucht in meiner Seele. Ich sehnte sich danach, endlich einmal woanders hinzukommen, andere Räume zu sehen, womöglich sogar von irgendeinem lieben Menschen gespielt zu werden. Doch die Jahre vergingen und es geschah – gar nichts.
Es war an einem Tag im Mai vor vielen Jahren, als die abendliche Sonne ihre letzten Strahlen durch das Fenster des Ateliers sandte, und dabei ein Lichtschimmer über mein staubiges, ausgetrocknetes Fell huschte.
Wie durch einen Zauber öffnete sich fast gleichzeitig die Tür des Ateliers und der Künstler kam mit einem jungen Mann herein. Die beiden hatten Musikinstrumente dabei und begannen nach kurzer Zeit ein paar Melodien zu spielen. Als sie nach einigen Minuten eine Pause machten, erhob sich der neu hinzu gekommene Musiker und begann, im Atelier hin und her zu gehen. Dabei kam er auf mich zu und betrachtete mich. Ich war wie erstarrt.

Hey, Jimmi, was ist denn das hier? rief er, du hast ja eine echte Bodhrán! Wo hast du die denn abgestaubt?

Jimmi, der Künstler, der gerade eine gerissene Banjosaite austauschte, erzählte, dass ich ein Schnäppchen vom Flohmarkt sei, dass er mich aber gar nicht spielen würde. Und außerdem wisse er auch nicht, wie man solch ein Ding überhaupt spielt.
Vielleicht kannst du es ja spielen, Willie, meinte er.
Ah, nun wusste ich auch den Namen des anderen Musikers. Er war mir vom ersten Moment an sympathisch.

Na klar doch, ich kann dir zeigen, wie sie gespielt wird, sagte Willie, hast du einen Klöppel dafür?

Nee, aber du kannst ja vielleicht mit der Hand darauf trommeln, antwortete Jimmi, Ich sage es dir aber gleich: die klingt nicht besonders gut!
Ich war tief beleidigt, obwohl ich wusste, dass er mit dieser Einschätzung wohl recht hatte.
Willie nahm mich in seine Hände, rieb den Staub von meinem Fell und klopfte vorsichtig darauf.
Noch nie gefühlte Schauer durchfuhren mich, so als würde mich jemand ganz sanft aufwecken.

Das Ding ist ja völlig verzogen, sagte Willie, außerdem ist das Fell viel zu straff gespannt und komplett ausgetrocknet. Das kann ja auch gar nicht gut klingen!

Er nahm eine Flasche, goss einen Schluck Wasser auf die Innenseite meines Fells und verrieb die Flüssigkeit gleichmäßig darüber. Danach griff er mit der linken Hand unter mein asymmetrisches Holzkreuz, presste die Hand gegen die Innenseite meines Fells und stellte mich auf sein Knie. Dann begann er mit rhythmischen Schlägen seiner abgeknickten rechten Hand einen Sechsachteltakt auf mir zu trommeln.
Das muss ein Jig sein, durchfuhr es mich, ein irischer Tanz, der noch nie auf mir getrommelt worden war.
Ich wurde von einem heftigen Schütteln erfasst. Mein vom Wasser aufgeweichtes Fell kribbelte wie verrückt und fühlte sich plötzlich so angenehm samtig an. Zum ersten Mal in meinem Leben spürte ich einen noch nie zuvor erlebten Klang in mir, der seltsam tiefe Melodien aus meinem Innern hervorzauberte.
Das muss Glück sein, frohlockte ich, das muss das Gefühl sein, das auch die übrigen Bodhráns haben, wenn zum ersten Mal Töne aus ihnen hervorgebracht werden!
Willie spielte eine ganze Weile auf mir herum und Jimmi, der seine Banjosaite inzwischen ausgetauscht hatte, zupfte dazu einige Akkorde.

Das ist ja ein ziemlich seltsamer Rhythmus, bemerkte er.
Das ist ein Jig, ein irischer Tanz im Sechsachteltakt, antwortete Willie, es gibt meistens irgendeine Melodie dazu, zum Beispiel diesen Song.
Und dann sang er zum tiefen Klang der dumpf klingenden Trommel das Lied von „Lannigan’s Ball“, das ich vor vielen, vielen Jahren schon einmal aus dem Kassettenrekorder des irischen Kesselflickers gehört hatte. Jimmis Five String Banjo lieferte dazu die passenden drei Akkorde.
Ich war wie berauscht, bemerkte eher am Rande, dass Jimmi irgendwas zu Willie sagte und sah mich kurz darauf unter Willies Arm geklemmt aus der Tür des Ateliers schweben. Und so wechselte ich noch am selben Abend meinen Besitzer. Endlich hatte ich meinen eigenen Klang entdeckt. Ich war so glücklich wie nie zuvor in meinem Leben ...
Jahre vergingen. Willie und ich wurden gute Freunde und erlebten so manche wilde Session. Ich lernte neue Leute und andere Instrumente kennen, manche davon klangen so vertraut, als kämen sie aus meiner irischen Heimat.
Willie, der außerdem Geige, Mandoline und Gitarre spielen konnte, hatte mit farbigen Filzstiften irgendein keltisches Ornament auf meine Außenseite gemalt. Damit sie nicht so unglaublich hässlich aussieht, wie er seinem Freund Bernd bei einer Session gegenüber erwähnt hatte,  sie lässt sich zwar nicht richtig stimmen, aber mit ein bisschen Flüssigkeit kann man das Fell so weich machen, dass es einigermaßen brauchbar klingt.
Er konnte ja nicht wissen, dass mich solche Bemerkungen kränkten, aber ich verzieh es ihm, denn meistens war er ja sehr lieb zu mir gewesen.
Ich war glücklich und gleichzeitig sehr stolz und erlebte die besten Jahre meines schon so langen und meist unglücklichen Lebens. Besonders angenehm war die Erfahrung, wenn Willie statt Wasser schwarzes Bier aus meiner Heimat verwendete, um mein Fell geschmeidig zu machen. Dann entstand ein so wunderbar beglückendes und gleichzeitig benebelndes Gefühl in meiner Seele, so dass ich besonders schöne Klänge hervor brachte. Dieses Gefühl hielt auch noch eine Weile an, wenn der letzte Trommelschlag schon längst verklungen war. Nur die am nächsten Tag folgende, schmerzhafte Verspannung auf meinem Fell war nicht so angenehm.  Und so lernte ich allmählich, dass manche Genüsse des Daseins auch ihre Schattensaiten haben.
Eines Tages brachte Willie eine runde, braune Tasche mit nach Hause, öffnete einen Reißverschluss und holte eine andere, offenbar neue Rahmentrommel daraus hervor.  Er nahm seinen Klöppel, spielte einige Schläge darauf und schmatzte vor Vergnügen. Sie klang wirklich sehr gut!
Ich fühlte mein eigenes Fell vibrieren, aber nicht vor Freude, sondern da war etwas Anderes, was mich ängstigte. Ich hatte plötzlich das dumpfe Gefühl nun nicht mehr gebraucht zu werden.
Und genau so kam es auch: Noch am gleichen Tag hängte mich Willie an einen rostigen Nagel in seinem Keller.  Ich war enttäuscht, verzweifelt und wütend, auf solche Art und Weise ausgemustert zu werden und begann, meinen Besitzer immer mehr zu hassen.
Wieder vergingen einige Jahre. Die Ornamente auf meiner Trommeloberfläche hatten schon lange ihren anfänglichen Glanz verloren und das, was zuvor nicht durch den unnachgiebig klopfenden Stick abgerieben worden war, verblasste im Laufe der Zeit zusehends.
Willie spielte nur noch auf „seiner Neuen“, wie ich meine Konkurrentin nannte, und schien seine alte Rahmentrommel allmählich vergessen zu haben.
Ich hatte mich schon mit dem Gedanken abgefunden, den Rest meiner Tage in einem dunklen Kellerraum verbringen zu müssen, da passierte dann doch etwas Überraschendes.
An irgendeinem Wintertag kam Willie in den Keller, nahm mich von der Wand und packte mich in eine Plastiktüte. Ich war von dieser plötzlichen Bewegung dermaßen überwältigt, dass ich nicht mehr wusste, wo oben und unten ist. In einer Art Altersstarre hatte ich Monate und Jahre ausgehalten, ohne bewegt zu werden. Und nun wurde ich beim Transport auf einem Fahrrad dermaßen durcheinander geschüttelt, dass mir richtig schwindlig wurde.
Willie traf sich mit seinem Freund Bernd in ihrer musikalischen Stammkneipe, der „Orange“ im Bremer Stadtteil Findorff. Dort verabredeten sie sich schon seit Jahren zu Sessions und Konzerten, und dort hatte auch ich schon so manche heftige Nacht erlebt. Unvergessen war jene Nacht, als der schon heftig betrunkene Willie auf einem Zimtstreuer Blues geblasen hatte. Der Zimt war dabei in kleinen hellbraunen Wölkchen in die von Zigaretten verqualmte Kneipenluft zerstäubt worden und einiges davon war auch auf meinem Fell an einem Guinnessflecken hängen geblieben. Willie hatte den Flecken nie wieder richtig abgewaschen, was ich ihm – trotz aller gemeinsamer Erlebnisse und der tiefen Dankbarkeit, die ich eigentlich für ihn empfand - durchaus übel genommen hatte.
In der „Orange“ saßen Bernd und Willie in einer Ecke und musizierten. Bei einem Stück spielten sie dann auf beiden Bodhráns. Willie nahm mich und Bernd durfte auf Willies „Neuer“ spielen. Dazu sangen sie das Lied der englischen Bergarbeiter, die mehr Geld von ihrem Landlord verlangen, dabei jedoch über den Tisch gezogen werden: „The Pound-a-week-rise“.
An einem Nebentisch saßen zwei junge Frauen, welche die beiden Musiker mit interessierten Blicken beobachteten. Eine davon, eine hübsche Rothaarige, schaute abwechselnd auf die beiden Bodhráns und dann immer wieder hin zu Willies Freund Bernd.

Ich bin übrigens Marie, sagte die Rothaarige, als sie plötzlich zu Willie und Bernd an den Tisch heran trat und sich einfach dazu setzte. Es begann ein Gespräch über irische Rahmentrommeln, über Rhythmus und Schlagtechniken, über Klöppel, Sticks und Fingerknochen. Und als Willie den schon etwas abgegriffenen Witz zum Besten gab, dass die besten Bodhráns und Klöppel aus der Haut und dem Oberschenkelknochen eines Engländers gemacht seien, wusste ich, was die Stunde geschlagen hatte. Irgendwann würde Willie wieder einige Schlucke Guinness auf mein Fell gießen, die schwarze Flüssigkeit langsam und genussvoll verreiben, und mich dann zum großen Sessionfinale aufklingen lassen. Ich war schon voller Vorfreude.
Doch dieses Mal war irgendwie alles anders. Da war eine ungeheure Vibration in der Luft, die ich sogar auf meinem Fell spürte. Und diese Vibration hatte sich im Laufe des Gesprächs zwischen Marie und Bernd entwickelt, die ihre Augen gar nicht mehr voneinander lassen konnten. Bodhráns spüren so etwas sehr viel früher als Menschen, deren Wahrnehmung von so vielen anderen Dingen abgelenkt wird.
Willie gab mich in Maries Hände und zeigte ihr, wie man mich am besten auf dem Knie positioniert, so dass man beide Hände zum Spielen frei hat. Marie versuchte einige Schläge, um schnell festzustellen, dass diese Spielart ganz anders war, als sie vorher vermutet hatte.

Schließlich fragte Marie, ob Willie  sich vorstellen könne, ihr das Bodhrán-Spielen richtig beibringen zu können.
Willie antwortete lächelnd, dass sein eigener Stil so dermaßen schräg sei, dass er ihn lieber nicht weiter vermitteln würde. Aber sein Freund Bernd habe das Bodhrán-Spielen gerade „von der Pieke auf“ einigermaßen gelernt, und er sei daher sicher auch der geeignetere Lehrer. Willie hatte nämlich gemerkt, dass Marie einen Blick auf Bernd geworfen hatte, und dieser auch auf sie.
Ich kann dir jedoch meine alte Bodhrán leihen, so dass du darauf schon mal üben kannst, sagte Willie, und vielleicht bringt dir Bernd ja den Rest bei, wenn er Lust dazu hat.
Marie freute sich und fragte, wann sie die Bodhrán ausleihen dürfe.

Sofort, antwortete Willie, du kannst sie sofort mitnehmen. Dann brauche ich sie nicht mehr zu mir zurück zu transportieren. Ich habe ja meine eigene, neue.

Bild: Die Neue
Ich war empört: da nahm sich dieser untreue Musiker doch tatsächlich die Lockerheit heraus, seine alte Bodhrán an eine wildfremde junge Frau zu verleihen! Und was, wenn diese jetzt damit durchbrennen würde? Was sollte denn nun mir, dem armen, alten Duckling werden?
Marie verstaute mich in der Plastiktüte, die Willie mitgebracht hatte und nahm mich mit zu sich nach Hause. Dort blieb ich ein paar Tage auf einem alten Sofa liegen.
Kurz darauf nahm mich Marie aus der Plastiktüte, zwängte mich in eine Leinentasche und klingelte wenige Minuten später an Bernds Haustür. Bernd öffnete, freute sich sehr, Marie zu wiederzusehen und führte sie in sein Zimmer.
Die beiden trommelten eine Weile abwechselnd und offenbar ziemlich abgelenkt auf mir herum, sprachen über Gott und die Welt und so vieles, was ich nicht wirklich verstehen konnte.
Schließlich legte mich Bernd vorsichtig auf den Fußboden und wandte sich Marie zu, weil er offenbar etwas Wichtigeres als mich in seinem Leben gefunden hatte.
Ich nahm gerade noch wahr, wie Marie und Bernd sich irgendwie miteinander vergnügten und seltsam unrhythmische gutturale Laute von sich gaben, die erst nach einigen Minuten in den groovigen Viervierteltakt eines irischen Reels übergingen, bevor der heraufziehende Herbstabend das Zimmer in ein undeutliches Zwielicht hüllte ...

Neun Monate später erblickte Robin Leonhard Vogelei das Licht der Welt, ein Kind, das im wahrsten Sinne des Wortes herbeigetrommelt worden ist. Und ich, die unscheinbare und vollkommen verzogene Bodhrán hatte einen nicht unwesentlichen Teil dazu beigetragen.
Und dass Willie, mein ehemaliger Besitzer, der von Zeit zu Zeit als Robins Patenonkel zu Besuch kam, nur noch mit seiner „Neuen“ herum machte, störte mich dann irgendwann auch nicht mehr allzu sehr. Ich selber war ja inzwischen viel zu alt, um weiterhin getrommelt zu werden. 
Ich habe in der Zwischenzeit einen erhabenen Platz über dem Durchgang des Wohnungsflurs gefunden, von wo ich sehen konnte, wie der Knabe im Laufe der Jahre immer größer wurde und seine Spiellandschaften in der Wohnung ausbreitete.
Und so habe ich endlich meine Bestimmung gefunden, und ich bin unglaublich stolz darauf, etwas so Entscheidendes herbeigeführt zu haben. Denn ohne meine Existenz wäre es vermutlich weder etwas mit Bernd und Marie, noch mit Robin geworden. Davon jedenfalls bin ich ziegenfellfest überzeugt.
Robin spielt übrigens seit einigen Jahren Euphonium, das manchmal wie eine schön gestimmte Ziegenfelltrommel klingt. Außerdem hat er vor kurzem begonnen,  auf einer anderen Bodhrán, die sich seine Mutter irgendwann mal gekauft hatte, das Trommeln zu lernen. 
Vor einigen Wochen kam er dann mit Willies „Neuer“ nach Hause. Willie hat sich inzwischen eine so genannte GPS-Bodhrán - eine Guido Plüschke Special -Bild: GPS-Bohdrán zugelegt und seine „Neue“ an Robin verschenkt.  Nun spielt Robin auf der „alten Neuen“ und ich habe deutlich gehört, dass er sich vor kurzem zu Weihnachten auch eine GPS gewünscht hat. Man möge mir verzeihen, wenn ich darüber schmunzle, dass die „alte Neue“ demnächst vermutlich neben mir in der Wohnung hängen und sich entsetzlich langweilen wird. Warum sollte es ihr auch besser ergehen wie mir?
Robin wird sich dann nur noch mit seiner GPS vergnügen, deren Fell übrigens aus einer ziemlich alten Ziege gefertigt sein soll, wie ich erfahren habe.
Und so werden die Jahre vergehen, in der mein Fell immer mehr austrocknen und mein Rahmen immer brüchiger wird. Und doch bin ich mit meinem derzeitigen Dasein, das eher von Ruhe und Müßiggang gekennzeichnet ist, durchaus einverstanden. Ich erinnere mich gerne an die wilden Abende mit den Musiksessions, an die Begegnungen mit den anderen Instrumenten und die Erlebnisse, an denen ich teilhaben durfte. Und ich hoffe, dass man sich an mich erinnert.

Und selbst, wenn ich irgendwann im Sperrmüll landen sollte, so hoffe ich, dass mich irgendein Sammler findet und mich davor bewahrt, von den alles zermalmenden Reisszähnen der Schreddermaschine in kleine Teile zerlegt zu werden.

Aber wer weiß schon, was im Leben einer alt gewordenen Bodhrán noch so alles passieren kann? 

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W. Burger